Die Quiescenza

Diese Zusammenfassung folgt in der theoretischen Erklärung dem gleichnamigen Kapitel in Robert O. Gjerdingen, Music in the Galant Style., 2007, New York, S. 181–196.

Die Quiescenza ist ein Satzmodell, das aus einem Partimento von Niccolò Zingarelli aus dem Neapel des 18. Jahrhundert enstanden ist. Robert Gjerdingen benennt die Quiescenza nach ihrem Auftreten bei Zingarelli. Genauer stammt das Satzmodell aus einer Sammlung von Handregeln zu den Partimenti von Zingarelli, noch genauer aus dem Modell aus einer Beschreibung, wie mit einem Orgelpunkt über dem Grundton zu verfahren ist.

Satztechnisches

Die Grundform der Quiescenza besteht aus einer Progression von vier Akkorden: ein Grundakkord, eines Quartsextakkords, eines Sekundakkord und erneut ein Grundakkord über dem Orgelpunkt des Grundtones. Zusätzlich wird vorgeschlagen, dass der erste Akkord mit einer kleinen Septime angereichert wird, was ihn in funktionalem Denken dominantisch macht.

Die Form mit dominantischer Septime im ersten Akkord ist in der Literatur häufiger zu finden. Es findet sich aber auch die Grundform ohne kleine Septime zu Beginn. Diese Grundform wurde vor allem in früherer Zeit (galanter Stil und Frühklassik) verwendet.

Beispiele und historische Einordnung

J. S. Bach – Inventio 14

Zu Zeiten Bach wurde die Quiescenza als Eröffnung verwendet.

D. Scarlatti – Sonate K. 250

Domenico Scarlatti verwendete die Quiescenza oft zur Eröffnung jeweils zwei Mal hintereinander. Das doppelte Auftreten der Quiescenza wurde dann in dieser Zeit auch zum allgemeinen Standard.

Die Quiescenza in C. Ph. E. Bachs Versuch

C. Ph. E. Bach formulierte die Umpolung der Funktion der Quiescenza. In seinem Buch Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen. Dort führt er die Quiescenza als Nachtrag nach einer Kadenz an. Zur selben Zeit etablierte sich die Quiescenza auch in Paris, dort ebenfalls als Nachsatz nach grossen Kadenzen und zusätzlich meist in jeweils doppelter Verwendung.

Mozart – Klaviersonate a-Moll

In Wien zur Zeit der Klassik wurde die Quiescenza dann zu einem Klischee.

Als weiteres Beispiel: Mozart, Sonate für Klavier Nr. 8 in a-Moll, Andante cantabile. Wir sehen die Schlusskadenz, die den A-Teil des zweiten Satzes beschliesst mit einem Triller auf D. Nach dieser Rückfindung mit Kadenz ertönt, fast schon Schulbuchhaft, eine Quiescenza zwei Mal. Damit schliesst der A-Teil.

Schubert – Strecihquartett D 703

Die signalwirkende und damit sich verselbständigende Kraft von etablierten Satzmodellen lässt sich durch die Quiescenza bei einem Beispiel aus dem Quartettsatz D703 von Schubert aufzeigen.1

Der Ausschnitt stammt aus dem Beginn des Quartettsatzes D703. Ich möchte kurz die Frage diskutieren, ob der abgebildete Abschnitt formal als Quiescenza zu deuten und zu hören ist.

Gjerdingen bietet in seinem Buch eine genaue Anleitung zur Konstruktion einer Quiescenza: „a ♭⑦ - ⑥ - ♮⑦ - ① melody, a tonic pedal point, the associated sonorities, and a double presentation.“ Unter «associated sonorities» ist in diesem Falle die Platzierung am Schluss eines Satzes nach der Rückfindung in die Haupttonart zu verstehen.

«associated sonorities»

Dem Ausschnitt aus dem zu untersuchenden Streichquartettsatz, geht eine deutliche Kadenz voraus. Diese Kadenz ist die erste Kadenz im Stück und bestätigt nach einem tonikal undeutlichen Teil erstmals die Haupttonart c-Moll. Der Punkt «associated sonorities» ist also zumindest gewissermassen vorhanden: In unserem Beispiel ist der Ausschnitt tonartbestätigend, jedoch nicht im historisch korrekten Formabschnitt am Schluss, sondern am Anfang.

Melodik

Die melodische Wendung ♭⑦ - ⑥ - ♮⑦ - ① ist im Beispiel von Schubert nicht zu finden. Als einzige (lineare) melodische Aktivität – die für den gesamten Satz deutlich mehr von Bedeutung scheinende Sekundmotivik mit unterer Wechselnote in der ersten Geige und später im Cello blenden wir für dieses Beispiel aus – ist in der zweiten Geige ab Takt 13 ③ - ♮③ - ④ -♭③ - (⑤) zu finden. Dieser Punkt kann also nicht erfüllt werden.

Tonikaler Orgelpunkt

Der tonikale Orgelpunkt ist in der Bratsche zu erkennen, wird aber ab Takt 19 vom Wechselnoten Motiv im Cello untergraben, was die Wirkung aber nicht abschwächt, im Gegenteil die Position es Orgelpunktes wird im Verlauf noch gestärkt. Zudem bietet die erste Geige klar auf zweiten Schlag das benötigte ♭⑦.

Doppelte Platzierung

Die doppelte Platzierung ist sogar potenziert vorhanden: Nach zweifacher Durchführung kommt eine erneute Kadenz nach c-Moll, nach der nochmal eine zweifache Durchführung erklingt. Dies spricht in doppeltem Sinne für die Quiescenza.

Harmonische Betrachtung

Als Argument gegen die Quiescenza kann erwähnt werden, dass der Sekundquartseptakkord fehlt, der die Quiescenza traditionell schliesst, dieser ist jedoch durch die beiden 16tel-Noten C – D zumindest angedeutet.

Betrachtet man diese Punkte, ist es strittig, ob es sich im historisch – traditionellen Sinn wirklich um eine Quiescenza handelt. Gjerdingen erklärt das Phänomen Quiescenza vom Partimento und Generalbassspiel her, was der historischen Akkuratheit wegen eine Funktionsanalyse theoretisch nicht zulässt.2 Gleichzeitig benutzt Gjerdingen selbst an einigen Stellen moderne und zeitgenössische Analysemethoden, was dessen Verwendung in diesem Kontext trotzdem stichhaft macht.

Betrachten wir erneut die besprochene melodische Linie der zweiten Violine:

③ - ♮③ - ④ -♭③ - (⑤) - ③.

Wenn zu jedem Melodieton die Harmonie komplettiert wird, setzt sich das Bild der Quiescenza zusammen: I – (V^56^) – IV^64^ – I. Schematisch in den Kontext der Funktiosanalyse übersetzt ist die Passage klar als Quiescenza zu verstehen. Noch deutlicher ist die Quiescenza in zu hören als analytisch mit jeder Regel zu begründen. Was die Stelle schlussendlich zu einer Quiescenza macht.

Zusammenfassung und Analyse von Oliver Rutz


  1. "By midcentury [18. Jh.] this cluster of traits – a ♭⑦ - ⑥ - ♮⑦ - ① melody, a tonic pedal point, the associated sonorities, and a double presentation -- had stabilized as a stock schema employed for closing rather than opening passages." (Robert O. Gjerdingen, Music in the Galant Style., 2007, New York, S. 181–196, hier: 183) Gjerdingen weist bereits darauf hin, dass sich die Quiescenza Mitte des 18. Jahrhunderts bereits verselbstständigte und von seinem historischen Bauplan (formfunktional oder satztechnisch oder entwicklungsgeschichtlich) abkam. Besonders der Hinweis «associated sonorities» ist hierbei als Schlüsselbegriff hervorzuheben: eine Quiescenza wird am einfachsten dort gehört, wo eine Quiescenza erwartet wird. 

  2. Obwohl auch eine solche von Gjerdingen zumindest angedeutet wird: «one can give partimenti the minor seventh as if one were preceeding in the nature of the fourth of the key" Ebd., 181.